FRAU AM KREUZ

Kunst und Leben greifen für Theres Liechti immer ineinander. Die Winterthurer Künstlerin bildet ab, was sie in ihrem Alltag vorfindet und sucht nach jenen Kippmomenten, in denen die Dinge weder schön noch unangenehm sind. Ihre künstlerischen Arbeiten widerspiegeln daher auch die Haltung, mit der die 53-Jährige durchs Leben geht. Dazu gehört auch viel Ironie, mit der sie Themen wie Sexualität, Selbstoptimierung und Heile-Welt-Vorstellungen in ihren Zeichnungen, Video-Projektionen und Stop-Motion-Filmen in Frage stellt.

Für die Page Blanche in dieser Ausgabe hat die Winterthurer Künstlerin ein Kruzifix fotografiert, das hinter der Eingangstür einer Tessiner Alphütte hängt. Theres Liechti zieht sich gerne dorthin zurück. «Das Kruzifix gehört zur Tessiner Kultur, es einfach abzuhängen, war für mich keine Möglichkeit», sagt sie. Auf dem Flohmarkt fand sie ein Puppenkleid – und entschloss sich, dieses der Figur überzuziehen, um mit dem Bild des leidenden Jesus zu brechen. «Mich interessiert, wie dieser veränderte Kontext die Wahrnehmung dieser Figur beeinflusst». Die Fotografie machte aus dem Kruzifix ein neues Werk: «Frau am Kreuz». Als sie nach einem passenden Titel suchte, stiess Theres Liechti auf die Legende der Wilgefortis – auch bekannt als die Heilige Kümmernis. Die Legende geht so: Auf Geheiss ihres Vaters hätte Wilgefortis einen heidnischen Prinzen heiraten sollen. Sie weigerte sich und bat Gott, nicht mehr begehrenswert zu sein. Über Nacht wuchs ihr ein Bart. Der Prinz wollte nichts mehr von ihr wissen und der erzürnte Vater liess sie kreuzigen. Von der gekreuzigten Frau mit Bart entstanden im deutschsprachigen Raum zwischen 1400 bis 1848 zahlreiche ikonographische und literarische Zeugnisse. Die Heilige Kümmernis gilt auch als Schutzpatronin der LGBTQ-Gemeinschaft.

Sandra Biberstein, Plakat, Page Blanche, coucou Kulturmagazin 107, 2022


Bilder virtuell in Gang zu bringen, ist eine Spezialität dieser Künstlerin. Sie legt uns ein Bild hin, öffnet damit die Schleusen unseres Unterbewussten. Nicht nur Versuchsanordnungen auszulegen, sondern ganze Abläufe selber in Bewegung zu setzen – dies war der Auslöser für die Auseinandersetzung mit dem Medium Film. Theres Liechti hat inzwischen ein knappes Dutzend Kurzfilme im stop-motion-Verfahren realisiert, die an Prägnanz und Originalität zum
Besten gehören, was ich in diesem Bereich im Documenta- und Biennale-Jahr 2017 gesehen habe. ...

Die nicht zu überbietende Einfachheit und Selbstverständlichkeit ihrer filmischen Aperçus, die oft nur in einer einzigen Körperbewegung bestehen, sind cool und einfach genial. Ihre Protagonisten sind Puppen, Plastikschweinchen, der eigene Hund; die Spielorte vorzugsweise Puppenstuben. Häufig passiert fast nichts. Besamo mucho: Man sieht eine Puppe, ein Mädchen im roten Röckchen steht vor uns. Lange nichts! Läuft der Film überhaupt? Plötzlich springt das
Püppchen hoch und spreizt wie ein Hampelmann die Beine und wirft die Arme in die Höhe. Außer dem Röckchen trägt es keine Kleider. Dann geht’s zurück in die keusche Ausganslage. Ebenfalls wie unter einem Bann führen die Puppen im Puppenhaus Insomnia immer wieder die exakt gleichen Bewegungen aus: Diese Szenen wirken wie Albträume: Liechtis Puppen sind Sisyphos‘ Schwestern. Doch es gibt auch heitere Zwischenspiele, wenn sie ihren Schlafenden
Hund filmt und der Kreatur die Ruhe gönnt oder wenn sie mit ihren Händen Monster in den Raum zaubert. ...

Matthias Frehner, Laudatio, Carl Heinrich Ernst Preisverleihung, Kunstmuseum Winterthur, 2017


Theres Liechti arbeitet in den verschiedensten Medien. Ihr Repertoire umfasst Zeichnung, Malerei, Objektkunst und Film. Die langjährige Konstante in ihrem Oeuvre ist zweifellos die Zeichnung. Dabei steht meistens das Körperliche im Vordergrund. Körperlichkeit wird ohne Umschweife sehr direkt, aber niemals vulgär dargestellt. Durch ihre Tabulosigkeit entmystifiziert Theres Liechti sagenumwobene Themen wie Sexualität oder Geburt und verseht sie sattdessen mit einem feinen Zauber des Alltäglichen. ...

Für Theres Liechti sind die wohl wichtigsten Inspirationen ihre Alltagsbeobachtungen. Sie hat ein ausgeprägtes Flair für die Zwischentöne des Lebens, sie hat den Blick für die Magie des Gewöhnlichen und für Skurriles in den Alltäglichkeiten. Und vor allem hat sie die Gabe, ihre Beobachtungen witzig, feinsinnig und mit Tiefgang in ihre Kunst einfliessen zu lassen. ...

Verlässt man nun Theres Liechtis Atelier nach einem Besuch wieder, geht man mit dem Gefühl, dass die Künstlerin, ihre Kunst und ihr Atelierraum ganz eng zusammengehören, dass sie quasi eine gemeinsame Seele haben. ...

Rebecca Gericke-Budliger, Laudatio, Preisverleihung Fontana-Gränacher Stiftung, Neumarkttheater, 2012